DOPPELMOND

“Doppelmond” oder “Ihre Sprache im Koerper unserer Sprache”
1998, Akademie Schloss Solitude, Stuttgart, Deutschland
Javor Gardev / Dubravka Ugresic / Georgi Tenev


Guten Abend, sehr geehrte Damen und Herren!

Das, was Sie hier vor Augen haben, wurde auf Deutsch verfaßt. Selbstverständlich, würde diese Behauptung von jedem Deutschen bestritten werden. Jedoch macht das den vorliegenden Text nicht weniger zu einem auf Deutsch verfaßten Text. Heute Abend liegt vor Ihren Augen Ihre eigene Sprache, jetzt aber verkörpert in unserer Sprache.

Auf den ersten Blick scheint diese Übung elementar, doch ist sie nicht ohne Zweck. Versuchen wir zuerst herauszufinden, was eigentlich ‘Lesung’ bedeutet.

Mehrere Leute, die der Sprache mächtig sind, in welcher der Text zu lesen ist, versammeln sich, um etwas zu hören, was sie genausogut zu Hause in aller Ruhe lesen könnten. Dabei wollen wir auch erwähnen, daß der Leser bei der Lektüre daheim fast immer vor einer sicheren Enttäuschung bewahrt würde, und zwar der Enttäuschung von der Persönlichkeit des Autors, dessen Äusseres und dessen Verhalten ganz und gar zu dem Bild paßt, das sich vor dem geistigen Auge des Leser entwikelt hat.

Was für einen Zweck hat die Lesung dann? Was ist für wen interessant? Es ist als ob die Antwort klar und eindeutig sei – es ist der Text, der für den Hörer von Interesse ist. Während einer Lesung aber fehlt es der Emotion an Originalität. Der Autor soll den Zuhörern etwas vermitteln, was sie sich auch selbst vermitteln könnten – das alles scheint wie eine seltsame Handlung, die den Autor zu einem Sprecher macht.

Ist die Lesung eine vollwertige Begegnung mit dem Charisma des Autors? Ein Rendez-Vous mit seiner Aura? Wahrscheinlich nicht, denn die Erfahrung zeigt, daß das Charisma umso größer ist, je weiter die erste Begegnung in der Zukunft liegt.

Folglich, bleibt nur ein Gedanke: Die Lesung ist ein Treffen von Leuten, die entweder keine Möglichkeit haben, woanders hinzugehen, oder es handelt sich um völlig Vereinsamte oder Snobs.

Also haben wir hier, von derartigen Gedanken beseelt, die Entscheidung getroffen, Ihnen behilflich zu sein und Ihnen unseren Unterstützung zuzusagen.

Die Texte sind da, und zwar auf Deutsch. Sie können Deutsch, und doch können sie es nicht. So stehen wir alle unter der gleichen Spannung und es gibt keine Vorteile mehr. Jetzt sind weder wir Ihre Gäste, noch sind Sie unsere. Unser eigentliches Treffen findet im Niemandsland der Sinne und des Sinnes statt, welcher jetzt von uns zu schaffen ist. Unserer Mond ist nicht Ihr Mond, denn er trägt einen anderen Namen. Jetzt aber transformiert sich der Doppelmond des Fremdseins in den Vollmond der Nähe, weil wir von unserem Mond erzählen und Sie den Ihrigen hören.
Die Sprache hier ist uns fremd, weil sie nicht unsere Sprache ist, doch ist sie auch fremd für Sie, weil sie, in einen anderen Körper übergehend, nicht mehr Ihre Sprache bleibt. Wir sind ‘Fremdsprecher’, und Sie, weil wir die Sprechenden sind, werden zu ‘Fremdhörern’. Jetzt sind wir alle Fremde.
Sollte es für Sie problematisch werden mit dem Verständnis, so benützen Sie hier das ‘Großwörterbuch – Deutsch als Fremdsprache’. Es könnte nützlich sein, denn Ihre Sprache tanzt schon mit seltsamen Bewegungen in unseren Münder, mit ihren Kurven des Akzents. Sie spielt ungewöhnliche Spiele mit unserer gewöhnlichen Artikulation und – vielmehr noch – sie hat das Gefühl ganz frei zu sein, frei vom Zwang, und zwar dem Zwang der alten Rechtschreibung, der neuen Rechtschreibung…

Javor Gardev
(Übersetzung: Georgi Tenev & Stefan Tiemann)
1998


Photos by Iosif Kiraly